Bei Ilse und Willi auf'm Land

Wohnungsbau. Weil sich viele Leute die Immobilie in der Stadt nicht leisten können, wird auf dem Land gebaut. Zu viel für den langfristigen Bedarf, warnt eine Studie.


Lohnt es sich, auf dem Land zu bauen, nur weil es billig ist? 'Gerade in ländlichen und strukturschwachen Räumen wird viel zu viel gebaut', behauptet Professor Michael Voigtländer vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Seine These: weil Kommunen immer wieder versuchten, über das Instrument der Baulandzuweisung, Unternehmen und Haushalte neu zu gewinnen, würden heute schon die Leerstände von morgen geschaffen.


Thomas Kiwitt, Technischer Direktor vom Verband Region Stuttgart, erläutert, welchen Sinn derartige Studien für die praktische Arbeit haben

Denn gerade junge Menschen ziehe es zum Studieren und Arbeiten in die größeren Städte. Und selbst Senioren wollten zunehmend in der Nähe von Freizeitangeboten, Einkaufsmöglichkeiten und anderen Infrastruktureinrichtungen leben. Durch diese von Wanderungsbewegungen ausgelöste Entleerung des ländlichen Raums werde langfristig der Leerstand erhöht. Das wiederum löse höhere Infrastrukturkosten pro Kopf aus und führe zu weiteren Attraktivitätsverlusten, so Michael Voigtländer.

Zumal das selbst genutzte Immobilieneigentum für viele Haushalte eher ein Konsumgut und weniger eine Wertanlage sei, würden auch tendenziell fallende Immobilienpreise keine Verhaltensänderung bewirken. Die derzeit geringen Zinsen und Baulandpreise auf dem Land stellten zudem auch bei gestiegenen Neubaukosten keine Belastung dar. Mit anderen Worten: durch die daraus folgende gestiegene Bautätigkeit verliert das eigene Haus überproportional an Wert, weil es langfristig nicht in dem Maße auch eine Nachfrage geben werde, vermutet der Wissenschaftler.

Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat alle 402 Kreise in Deutschland nach dem künftigen Bedarf an Wohnungen analysiert. In der Studie wurde die Bautätigkeit im Jahr 2014 dem geschätzten Bau­bedarf einmal bis zum Jahr 2020 und dann noch einmal bis zum Jahr 2030 in Wohneinheiten gegenübergestellt. Das Ergebnis ist wenig überraschend: in den Städten wird zu wenig gebaut, auf dem Land zu viel. Für ihre Analyse leiteten die Forscher die Wohnflächennachfrage auf Basis der demografischen Entwicklung und des individuellen Wohnflächenkonsums ab.

Nach diesen Zahlen wurden im Jahr 2014 zum Beispiel in Stuttgart 1914 Wohneinheiten erstellt. Bis zum Jahr 2020 müssten nach dieser Studie aber jährlich rund 3491 Wohneinheiten erstellt werden, um den Wohnungsbedarf entsprechend der Bevölkerungsentwicklung zu befriedigen. Schaut man sich die Entwicklung in den Landkreisen der Region an, ergibt sich teilweise ein ganz anderes Bild. Während der Bedarf in den Landkreisen Ludwigsburg und Esslingen wie in Stuttgart in den kommenden Jahren weiter ansteigt, sinkt er laut Studie in den Landkreisen Böblingen, Göppingen und dem Rems-Murr-Kreis. Das heißt, hier wird laut Studie zu viel gebaut. Das sieht man in den Landkreisen entspannt. Marie-Christine Scholze, Pressesprecherin des Rems-Murr-Kreises, hält die Schätzungen über die künftige Bevöl­kerungsentwicklung im Rems-Murr-Kreis (Bautätigkeit 2014: 1395 Wohneinheiten, Bedarf pro Jahr bis 2030: 1137 Wohneinheiten) für zu vorsichtig und betont, dass letztendlich niemand in die Zukunft schauen könne. Jochen Heinz, Erster Landesbeamter im Landkreis Göppingen und zuständig für das Bauressort, sieht ebenfalls keinen Anlass, der Entwicklung (599 Wohnungseinheiten 2014, Bedarf pro Jahr bis 2030: 407 Wohneinheiten jährlich) gegenzusteuern, zumal die Planungshoheit bei den Kommunen liege. Allerdings gelte auch im Landkreis Göppingen der Grundsatz 'Innenentwicklung vor Außenentwicklung'. Das sei aber oft schwierig umzusetzen, da die meisten Besitzer derartiger Grundstücke derzeit aufgrund der niedrigen Kapitalmarktzinsen nicht verkaufen wollen. Für den stellvertretenden Landrat hat der ländliche Raum nach wie vor eine Zukunft. Vorausgesetzt, die Rahmenbedingungen stimmen. Und dazu gehören für den Verwaltungsexperten nicht nur gute Verkehrsanbindungen, sondern auch ein schnelles Internet.

Anders in Ludwigsburg. Laut Studie wird hier bis zum Jahr 2020 der Wohnungsbedarf von 1697 im Jahr 2014 auf jährlich 2403 steigen. Für Dr. Andreas Fritz, den Pressereferenten des Landratsamtes Ludwigsburg, ist das Bevölkerungswachstum auf der einen Seite positiv. Das Wachstum sollte aber moderat erfolgen, um die daraus resultierenden negativen Konsequenzen besser abfedern zu können. Da der Anteil der Siedlungs- und Verkehrsfläche bereits beinahe ein Viertel (2014: 24,3 Prozent) der Bodenfläche belege, wirke der Landkreis auch auf eine flächenschonende Schaffung von zusätzlichem Wohnraum hin.

Für Thomas Kiwitt, den technischen Direktor vom Verband Region Stuttgart, sind derartige Studien eine wichtige Grundlage für die tägliche Arbeit. 'Die Entwicklung einer Region ist insgesamt aber wesentlich komplexer', sagt er.

Die Wissenschaftler haben indes für die Kommunen eine klare Handlungsempfehlung: So müssten die begehrten Großstädte wie Stuttgart nicht nur brachliegende Indus­trieflächen und weitere Flächen für den Wohnungsbau aktivieren, sondern vor allem auch bestehende Restriktionen und Auflagen, beispielsweise im Hinblick auf Gebäudehöhen oder Stellplätze, überdenken. Entscheidend sei, so Michael Voigtländer, die Kosten für den Neubau von Wohnungen in den Großstädten zu reduzieren, um Anreize für eine Ausweitung der Bau­tätigkeit zu schaffen. Ländliche Gemeinden hingegen müssten Anreize schaffen, dass mehr Bestandsgebäude in den Innenbereichen erworben werden, damit eine Zersiedelung und damit steigende Infrastrukturkosten vermieden werden können. Entscheidend sei aber, die Verkehrsinfrastruktur so zu verbessern, dass die Menschen schneller und komfortabler in die Zentren kommen. 'Es ist unwahrscheinlich, dass die wirtschaftliche Dynamik der Metropolen sich auf ländliche Regionen oder strukturschwache Räume übertragen lässt.' Ingo Dalcolmo
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