Grüne Gebäude nicht um jeden Preis

Nachhaltigkeit. Die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen hält es für falsch, bei Immobilien nur auf die Energieeffizienz zu schauen. Die Qualität für den Nutzer sei bei den Gebäuden genauso wichtig.

Eine Weltretterin stellt man sich ganz anders vor. Christine Lemaitre, geschäftsführender Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen DGNB, kann die inflationäre Verwendung des Wortes 'Nachhaltigkeit' schon gar nicht mehr hören. 'Wenn wir die Welt retten wollen, ist es schwierig, wenn jeder sein Ziel selber definiert', formuliert sie. Irgendwie sei heute alles nachhaltig. 'Wir wollen dieses große Wort auch mit substanziellen Inhalten füllen', sagt die promovierte Bauingenieurin.



Die Zertifizierung der Gebäude durch die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen sei dabei aber keineswegs ein Marketing-Gag oder als Beschäftigungsprogramm für Ingenieurbüros zu verstehen. 'Natürlich gibt es auch kritische Stimmen zum Zertifizierungswesen.' Aber nur bei jenen, die sich noch nicht wirklich inhaltlich damit auseinandergesetzt haben, kontert Lemaitre. 'Die Zertifizierung ist nichts anderes als ein Mittel zum Zweck. Ein Tool für Transparenz und damit auch Qualität am Bau', erklärt sie. Das DGNB-Zertifikat belohne den Bauherrn dafür, dass er mehr getan habe als üblich. Und das würde immer öfter auch von den Kunden nachgefragt werden. Es sei aber auch ein Instrument, um etwas sehr Komplexes einfach zu beschreiben. Dass sich irgendwann einmal das System DGNB selbst überholen könnte, glaubt Christine Lemaitre indes nicht. In der Baubranche schlummere noch sehr viel Innovationspotenzial. Und: 'Natürlich muss das DGNB-System in fünf Jahren anders aussehen als heute. Unser Ziel ist, Themen zu setzen, die vom Markt aufgenommen und professionalisiert werden, bis sie Standard sind', beschreibt sie ihre Philosophie. Das Zertifizierungs­system unterliege dabei einer ständigen Anpassung. Manche Themen werden herausgenommen, weil sie vielleicht schon zum Standard gehören, andere wie das Thema Mobilität werden neu aufgenommen. 'Wenn wir heute über Elektromobilität sprechen, müssen wir die Gebäude als Dienstleister betrachten. Ohne die Integration der Gebäude als Stromtankstelle wird dieses Konzept nicht funktionieren', erklärt sie.

Dabei geht es längst nicht nur um energetische Einsparpotenziale. 'Wir sind an einem Punkt angekommen, wo es falsch wäre, weiter nur auf Energieeffizienz zu pochen.' Wäre es nicht besser, Gebäude zu realisieren, in denen neben der Energieeffizienz auch der Nutzer eine hohe Qualität habe, fragt sie. Die neue DGNB-Geschäftsstelle im Caleido in der Tübinger Straße in Stuttgart will da mit gutem Beispiel vorangehen. 'Wir haben hier einen Ort geschaffen, an dem nachhaltiges Bauen in all seinen Facetten erlebbar wird', freut sich die Geschäftsführerin.

Dazu gehören Leuchten, die das Licht im Tagesverlauf simulieren, grüne, bepflanzte Wände, die Luftqualität und Raumakustik gleichermaßen verbessern. Oder Teppichböden, die Feinstaub binden, ohne flüssige Klebstoffe verlegt werden und zu 100 Prozent recycelbar sind. Mehr als 30 DGNB-Mitgliedsunternehmen haben sich mit ihren Bauprodukten und ihrem Expertenwissen an der Gestaltung der Räumlichkeiten beteiligt. Dabei darf aber auch der ökonomische Faktor nicht außer Acht gelassen werden. 'Wir wollen kein grünes Gebäude um jeden Preis', macht sie deutlich. Auch nachhaltige Gebäude müssten in der wirtschaftlichen Betrachtung Sinn machen. 'Sonst sind es nur Leuchttürme, die keiner baut.'

Eine DGNB-Zertifizierung sei deshalb auch kein Katalog, bei dem einzelne Maßnahmen vom Bauherrn abgearbeitet werden müssten. 'Uns interessiert mehr die Performance des Gebäudes, also zum Beispiel der Energieverbrauch oder die Qualität der Innenluft', sagt sie. Durch diese Betrachtung des Lebenszyklus einer Immobilie relativierten sich auch sehr schnell die höheren Investitionskosten. Natürlich sei die Planung aufwendiger. Aber schließlich gehe es auch darum, im Planungsteam das Optimum für jedes einzelne Gebäude im gesamten Lebenszyklus zu finden. 'Die Frage, wie am Ende des Lebenszyklus eines Gebäudes mit den Baumaterialien umgegangen wird, ohne viel Abfall zu generieren, beschäftigt uns schon seit der Gründung der DGNB', sagt Lemaitre. Die Ressourcenproblematik werde aus Sicht der DGNB deshalb auch das große Zukunftsthema der Baubranche sein.

Dass es neben dem DGNB-Label vor allem auf internationaler Ebene auch noch andere Mitbewerber gibt, stört Christine Lemaitre nicht. Natürlich versuche man die unterschiedlichen Zertifizierungssysteme auf dem Markt schon mal gegeneinander auszuspielen. Aber dieser Wettbewerb spielt sich vor allem bei den Planern ab. 'Auf Weltretterebene arbeiten wir ohnehin alle als Partner zusammen', setzt Christine Lemaitre auf das große Wort der Nachhaltigkeit.


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