Jeden Tag ein anderer Schreibtisch

Desktop-Sharing. Mit modernen Organisationsformen lassen sich nicht nur bis zu 30 Prozent mehr Arbeitsplätze generieren. Experten glauben, dass durch flexible Büros auch die Produktivität steigt.
© 2014 STUTTGARTER ZEITUNG


Bevor Thomas Jaißle morgens mit seiner Arbeit beginnen kann, muss er sich erst einmal einen Arbeitsplatz suchen. Das ist für den Partner und Geschäftsführer bei Drees & Sommer nichts Besonderes. Der weltweit mit rund 1700 Mitarbeitern agierende Ingenieur-Dienstleister hatte sich vor einigen Jahren dazu entschlossen, ein sogenanntes Desktop-Sharing-Modell in seiner Zentrale in Stuttgart-Vaihingen einzuführen. Darunter versteht man eine Organisationsform, bei der innerhalb eines Unternehmens weniger Arbeitsplätze als Mitarbeiter existieren. Dafür können sich die Mitarbeiter bei dieser Organisationsform jeden Tag ihren Arbeitsplatz neu aussuchen.

'Von Anfang an war klar, dass die Geschäftsführung da voll mitzieht', erklärt Thomas Jaißle voller Begeisterung. Genauso wie die meisten der über 130 Mitarbeiter in dem Gebäude führt ihn sein allmorgend­licher Gang zu seinem Spind, einem kleinen Schrank. Darin hat jeder Mitarbeiter seine persönlichen Unterlagen sowie einen Laptop. Anschließend sucht man sich seinen Arbeitsplatz, je nachdem, welche Aufgaben man gerade zu erledigen hat.

Beim Lokaltermin in Stuttgart-Vaihingen wird schnell klar, dass diese Büros mit den klassischen Kombibüros von früher nur noch wenig gemein haben. Nur die jeweiligen Teamassistenten haben noch einen festen Arbeitsplatz. Thomas Jaißle geht auf ein kleines Abteil aus Glas zu. Die Ausstattung ist zweckmäßig: Schreibtisch, Stehpult mit elektrisch verstellbarer Arbeitsplatte, zwei Monitore, Telefon. 'Hier braucht der Mitarbeiter nur seinen Laptop anzuschließen und sich am Telefon anzumelden', erklärt der Geschäftsführer das Prinzip. Pflanzen, persönliche Dinge, wie das obligatorische Bild von Frau und Kindern oder Bücher, findet man vergeblich. Wo bleibt da die Individualität? 'Wir haben uns sehr genau angeschaut, wie heute gearbeitet wird. Auch, wie die Arbeitswelt strukturiert und organisiert ist und wer die Mitarbeiter sind. Dabei haben wir festgestellt, dass gerade die junge Generation mit diesem Thema heute ganz anders umgeht', so Jaißle. Den Bilderrahmen auf dem Schreibtisch der Liebsten ersetze längst das Smartphone, und die obligatorische Orchidee auf der Fensterbank sei dem animierten Aquarium als Bildschirmschoner gewichen.

Desktop-Sharing ist dabei aber längst keine Modeerscheinung, die der neuen bunten Multimediawelt geschuldet ist. Es sind vor allem die veränderten Arbeitsstrukturen, die Modelle wie das Desktop-Sharing für Unternehmen so interessant machen. Und natürlich auch handfeste wirtschaft­liche Gründe. Vor allem stark wachsende Unternehmen können durch diese Organisationsstruktur bei den Raumkosten, der Ausstattung und den Energiekosten Geld sparen. Je nach Schätzung können durch solche Maßnahmen zwischen zehn und 20 Prozent der Büroflächen eingespart werden. Glaubt man den Experten, verbessert sich durch Desktop-Sharing aber nicht nur die Kommunikation innerhalb eines Unternehmens, sondern auch die Produktivität. Ein mög­licher Grund: der Mitarbeiter kann immer den Arbeitsplatz auswählen, der gerade am besten zu seiner Aufgabe passt.

Wer schon einmal in einem Großraumbüro gearbeitet hat, kennt das Problem. Man will sich konzentrieren, aber vor und neben einem wird lautstark telefoniert. Beim Desktop-Sharing gehen die, die viele Telefongespräche zu führen haben, in eine der Kabinen. Wer sich auf eine Arbeit besonders konzentrieren muss, sucht eine Kreativbox auf - einen besonders geräuscharmen Bereich -, und wer sich mit anderen besprechen muss, nutzt die Konferenzecken.

Aber es gibt auch andere Gründe, die für Desktop-Sharing sprechen. Gerade Unternehmen, die schnell wachsen, stehen oft vor der Frage, ob sie in der Nähe neue Büroflächen anmieten oder gleich irgendwo anders neu bauen sollen. Viele Unternehmen gliedern bei Platzmangel oft in einem ersten Schritt ihre internen Dienstleister aus. 'In solchen Phasen besteht die Gefahr, dass das operative Geschäft leidet, da man ständig damit beschäftigt ist, Platz zu schaffen', weiß Thomas Jaißle aus Erfahrung.

Andererseits sind in vielen projektorientierten Unternehmen die Mitarbeiter oft viel stärker beim Kunden vor Ort gefordert. Die Folge: unter der Woche sind viele Büros verwaist. 'Auch das hat uns dazu bewogen, über neue Nutzungskonzepte nachzudenken und bestehende Organisationsformen infrage zu stellen', sagt Thomas Jaißle.

Bei Drees & Sommer hat man zudem die Erfahrung gemacht, dass sich die starren Arbeitsplatzmodelle 'aus der alten Bürowelt' nur schwer mit dem zunehmend vernetzten Beratungsbedarf der Unternehmen in Einklang bringen lassen. Dabei müssen dezentrale Strukturen nicht schädlich sein. 'Es kommt vielmehr darauf an, wie gut das gesamte Unternehmen vernetzt ist', erklärt Thomas Jaißle. Um E-Mails abzurufen, müsse heute kein Mitarbeiter mehr an einem festen Schreibtisch sitzen. Das könne man genauso gut in der Cafeteria bei einem Espresso tun.

Unternehmen, die Desktop-Sharing einführen wollen, gibt Thomas Jaißle aber einen Rat mit auf den Weg: 'Die Mitarbeiter müssen vom ersten Tag an miteinbezogen werden', rät der Experte. Nur so werde ein Schuh daraus. Bei Drees & Sommer haben die Mitarbeiter von Anfang an ihre neuen Arbeitsplätze mitgestaltet, indem sie die Anforderungen an die Räumlichkeiten und die Arbeitsplatzmodule formuliert hätten. Rund ein Jahr beschäftigte sich das Unternehmen aus Stuttgart-Vaihingen mit sich selbst, bevor der Planungsauftrag an den Innenarchitekten rausging. Nochmals ein Jahr dauerte es, bis alle räumlichen und organisatorischen Voraussetzungen umgesetzt waren. Dazu gehört auch, dass jeder Mitarbeiter lernen musste, sich neu zu organisieren. Denn Desktop-Sharing funktioniert nur, wenn Mitarbeiter auch gelernt haben, eigenverantwortlich ihren Arbeitsalltag zu organisieren. Ingo Dalcolmo