Klasse statt Masse

Soziale Stadt. Großstädte wie Stuttgart sollten stärker auf eine aus­gewogene Bevölkerungsverteilung schauen, anstatt einfach nur mehr zu bauen. Das geht aber nur, wenn der soziale Wohnungsbau forciert wird.


'Sie sind heute schon der dritte Medien­vertreter.' Christine Hannemann ist derzeit eine gefragte Frau. Zwischen zwei Vorlesungen erklärt die Professorin für Architektur und Wohnsoziologie am Institut Wohnen und Entwerfen der Universität Stuttgart, warum das Wohnungsproblem in Stuttgart nur politisch gelöst werden kann. 'Wenn 70 Prozent der Bevölkerung sagen, dass bezahlbarer Wohnraum fehlt, dann sollte eine Stadtregierung, die wiedergewählt werden will, auch darauf reagieren', sagt sie in Anspielung auf die jüngste Bürgerbefragung.

Im Video erklärt Rolf Gaßmann, Vorsitzender des Mietervereins Stuttgart, welche Probleme auf die Stadt Stuttgart in den nächsten Monaten zukommen und wie Lösungen aussehen könnten.

Diskussionen, die sich mit den Grenzen des Wachstums einer Stadt beschäftigen, hält die promovierte Soziologin dabei aber für wenig zielführend. 'Stadt definiert sich durch die Mischung und nicht durch die Anzahl der Bürger. Wir brauchen eine ausgewogene Bevölkerungsverteilung. Auch der Polizist, die Krankenschwester oder der Straßenkehrer haben ein Recht darauf, in der Stadt zu wohnen, in der sie arbeiten', sagt sie.

Aber gerade diese Einkommensgruppen könnten sich immer seltener in der Nähe ihres Arbeitsplatzes Wohnraum leisten. Oft bleibe diesen Menschen nur das Einpendeln. Dabei lebten gerade Städte wie Stuttgart davon, dass auch der Altenpfleger oder die Verkäuferin in der Stadt wohnten. 'Es ist auch die Aufgabe der Politik, für eine aus­gewogene Bevölkerungsmischung in den Städten zu sorgen', mahnt sie. Dabei geht es längst nicht mehr nur um die Anschlussunterbringung von Flüchtlingen. Schon lange vor den Wanderungsbewegungen aus den Krisengebieten der Welt Richtung Europa litt die untere Mittelschicht in den wirtschaftsstarken Großstädten unter akutem Wohnungsmangel. 'Jetzt rächt es sich, dass die Politik jahrelang den sozialen Wohnungsbau vernachlässigt hat und praktisch keine neuen Wohnungen mehr gebaut hat.' Mittlerweile würde selbst der Mittelbau der Stadtgesellschaft immer seltener bezahlbaren Wohnraum finden. Das liegt aus Sicht von Christine Hannemann auch daran, dass sich kommunale Wohnungsunternehmen in der Vergangenheit lieber im Luxussegment tummelten, als sich um den sozialen Wohnungsbau zu kümmern. Diese Praxis räche sich in Zeiten, in denen dringend preisgünstiger Wohnraum benötigt werde, analysiert Christine Hannemann.

Während sich die Wissenschaftler noch darüber streiten, ob es tatsächlich eine Renaissance der Stadt gibt, seien die Veränderungen in den innerstädtischen Wohngebieten längst unübersehbar: 'Wohnstandorte, die früher hauptsächlich von sozial Schwachen und verschiedenen Ethnien mit Migrationshintergrund bewohnt wurden, prägen heute junge Familien, Baugemeinschaften, Studierende und Jungakademiker sowie Senioren- und andere Residenzen innerstädtischen Wohnmilieus. Wohnen ist eine Lebensentscheidung, die immer auch von der persönlichen Situation abhängt', sagt die Wissenschaftlerin. In der aktuellen Diskussion um den Mangel an preiswerten Wohnungen in den Städten werde die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt aber völlig unterschätzt. 'Die Leute wollen heute ein multifunktionales Leben - deshalb wohnen sie in der Stadt', so Hannemann. Aber nicht nur da. 'Immer mehr Menschen haben heute mehrere Lebens- und damit auch Wohnmittelpunkte.' Wie der Mann, der eine Wohnung in der Stuttgarter City hat, sich am Wochenende aber bei der Freundin auf der Schwäbischen Alb aufhält.

Wohnen könne sich sogar auf das Übernachten als reine Behälterfunktion reduzieren. Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft prognostiziert, dass in der Zukunft die Flexibilität des Arbeitsplatzes immer mehr zunehmen wird. Entweder man arbeitet im Büro, zu Hause oder an einem Co-Working-Center. Besonders einschneidend für die Stadtentwicklung und die Veränderung der Ansprüche an das Wohnen sei dabei die zeitliche Entgrenzung der Arbeit, so Christine Hannemann. Damit würden sich auch die Anforderungen an das Wohnen und die Lage, Größe und Ausstattung der Wohnungen verändern. Diese Annahmen ließen sich aber mit den derzeitigen statis­tischen Erfassungsmethoden nicht nachweisen. Das hänge auch mit dem deutschen Melderecht zusammen, das die Angabe eines Hauptwohnsitzes erzwinge. 'Ich bin mir sicher, dass in der Stuttgarter Innenstadt viele Leute gar nicht dauerhaft wohnen, weil sie hier nur studieren oder ihren Arbeitsplatz haben.'

Christine Hannemann befürchtet, dass die Städte unter dem aktuellen Druck der Flüchtlingsströme wieder in alte Muster verfallen und auf Großwohnsiedlungen wie die Parksiedlung oder den Hallschlag in Stuttgart setzen. 'So entsteht aber keine soziale Stadt, sondern ein Ghetto', fürchtet die Professorin. Die aktuelle Flüchtlingswelle könnte aber auch von der Politik als Lernprozess verstanden werden, kontinuierlich auf den sozialen Wohnungsbau zu setzen und diesen in der Stadtpolitik zu integrieren. Woher allerdings die Flächen für den Wohnungsbau kommen sollen, weiß auch Christine Hannemann nicht. 'Auch die Nachverdichtung in den Städten birgt Konfliktpotenzial, das bislang noch gar nicht untersucht wurde.' Vielleicht aber, so die Sozialwissenschaftlerin, sollte Stuttgart auch einmal über seine administrativen Grenzen hinausschauen und überlegen, ob eine strategische Wohnraumpartnerschaft mit den Kommunen um die Landeshauptstadt herum nicht ein möglicher Lösungsansatz sein könnte. 'Die Verkehrsanbindungen sind ja recht gut, und wenn der Druck auf allen Seiten groß genug ist, werden auch die lokalen Egoismen plötzlich ganz unwichtig', hofft Christine Hannemann. Ingo Dalcolmo
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